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Hoher Besuch in der FIZ!

Hoher Besuch in der FIZ!

Am 21.11.23 besuchte uns die Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider in der FIZ. Die Vorsteherin des EJPD besuchte eine unserer Schutzunterkünfte und tauschte sich mit unseren Beraterinnen über die Bedürfnisse unserer Klient*innen aus, die Opfer von Menschenhandel wurden.

Neben dem Besuch der Schutzwohnung gab es einen politischen Austausch mit der Delegation vom EJPD und Fachspezialist*innen. Die FIZ deponierte zusammen mit der Plateforme Traite mehrere Vorschläge, wie die Schweizer Regierungen Schutz von Opfern von Menschenhandel verbessern könnte. Unter anderem braucht es:
 
  • sichere, längerfristige Aufenthaltsbewilligungen
  • Zugang zu Schutz auch wenn die Ausbeutung im Ausland stattgefunden hat
  • Qualitätsstandards für Organisationen, die Opfer von Menschenhandel betreuen

Der Austausch über diese Anliegen war angeregt und die Bundesrätin sehr interessiert. Beim gemeinsamen Mittagessen konnten die Gespräche noch informell weitergeführt werden.

Zum Schluss führte die Frau Baume-Schneider noch ein längeres Gespräch mit einer FIZ-Klientin. Die Klientin meinte danach, dass die Bundesrätin sehr «human» war.

Wir hoffen nun, dass sie diese Humanität auch in ihrer Regierungspolitik umsetzen kann.


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Neue Rechtsprechungen bei entgangenem Lohn für Opfer von Menschenhandel

Neue Rechtsprechungen bei entgangenem Lohn für Opfer von Menschenhandel

Fast zeitgleich kam es zu zwei wegweisenden Entscheiden bezüglich des Entschädigungsanspruchs für Opfer von Menschenhandel bei entgangenem Lohn:

Keine Verpflichtung des Staates, für ausstehenden Lohn bei Opfern von Menschenhandel aufzukommen
Ein Mann aus der Ukraine ist in der Schweiz Opfer von Menschenhandel auf einer Baustelle geworden. Der Täter wurde wegen Menschenhandel verurteilt und das Opfer erhielt 5000 CHF als Wiedergutmachung, plus den entgangenen Lohn von 13‘577 CHF als Schadenersatz. Weil das Geld beim Arbeitgeber nicht geholt werden konnte, beantragte er das Geld bei der Opferhilfe. Diese zahlte ihm 4‘000 CHF Wiedergutmachung aus, wollte die Summe vom Schadenersatz aber nicht zahlen. Dagegen erhob er Beschwerde beim kantonalen Verwaltungsgericht, und zog sie weiter ans Bundesgericht. Das Bundesgericht entschied am 11. Oktober 2023 (1C_19/2023), dass er kein Anrecht auf Entschädigung über die Opferhilfe habe, da der Lohn ein materieller Schaden sei und somit kein „Schaden an der Person selber“ sei. Auch wenn das Gericht zum Schluss kommt, dass keine Gesetzeslücke bestehe, bleibt die Frage aus Sicht der FIZ ungeklärt, wie das Opfer den ausstehenden und ihm zustehenden Lohn erhält oder kompensieren kann. Von einer Gesetzeslücke im Sinne des Opfers – ob via verbesserten Zugang zum Vermögen des Arbeitgebers oder auf anderen Wegen –  kann deshalb durchaus die Rede sein.

Opfer von Menschenhandel hat das Recht auf Entschädigung für finanzielle Schäden – auch in der Sexarbeit
Am 28. November entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall Krachunova gg. Bulgarien, dass ein Verstoss gegen Artikel 4 (Verbot von Sklaverei und Zwangsarbeit) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vorliegt. Es ging um eine Betroffene von Menschenhandel, die eine Entschädigung in der Höhe von 22 500 BGN (ca. 11'000 CHF) für die Einkünfte aus der Sexarbeit einforderte, die ihr von ihrem Menschenhändler entzogen worden waren. Das bulgarische Gericht erklärte in seiner ersten Anhörung, dass Krachunovas Forderung nach finanziellem Schadenersatz nicht geprüft werden könne, da es sich um Geld handele, das durch «sittenwidrige» Handlungen verdient wurde. Das Gericht begründete dies damit, dass “each contract for sexual services made between [the applicant] and the respective client was void as infringing good morals … and there [could] be no question of damages".
Der EGMR stellte fest, dass die Staaten verpflichtet sind, den Opfern des Menschenhandels die Möglichkeit zu geben, von den Menschenhändler*innen eine Entschädigung für entgangene Gewinne zu verlangen. Zur Frage der «guten Sitten» erklärte der Gerichtshof, dass die Menschenrechte das Hauptkriterium bei der Gestaltung und Umsetzung von Massnahmen gegen Prostitution und Menschenhandel sein sollten. Der Gerichtshof stellte fest, dass es in diesem Fall nicht gegen die guten Sitten verstossen hätte, wenn der Menschenhändler aufgefordert worden wäre, das dem Opfer abgenommene Geld zurückzugeben. Zum ersten Mal hat der EGMR festgestellt, dass ein Opfer von Menschenhandel das Recht hat, von seinem Menschenhändler eine Entschädigung für finanzielle Schäden zu verlangen.

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Das neue FIZ Magazin ist da!

Das neue FIZ Magazin ist da!

Wie werden unsere Klient*innen zu Täter*innen gemacht?

Wer kriminalisiert? Welche Auswirkungen hat eine Kriminalisierung auf Betroffene? Und: Was braucht es, damit diese oftmals strukturellen Ungerechtigkeiten beseitigt werden können?

Diesen und vielen weiteren Fragen geht die aktuelle Ausgabe des FIZ Magazins unter dem Titel "Ausgebeutet. Illegalisiert. Kriminalisiert." nach. Im Magazin finden Sie aufschlussreiche Gastbeiträge und ein Gespräch mit zwei Beraterinnen der FIZ zur Schuldumkehr, die unsere Klient*innen erleben.

Wir wünschen eine anregende Lektüre!

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Europäischer Tag gegen Menschenhandel

Europäischer Tag gegen Menschenhandel

Am 18. Oktober ist der Europäische Tag gegen Menschenhandel. Ein wichtiger Tag, um auf das Thema aufmerksam zu machen. Denn, Menschenhandel findet statt – auch in der Schweiz.

Die Plateforme Traite veröffentlicht zum heutigen Tag ihre neusten Zahlen, basierend auf den Beratungen und Identifizierungen ihrer vier Mitglieder. Die vier spezialisierten Fachstellen haben im Laufe des Jahres 2022 177 neue Opfer von Menschenhandel in der Schweiz identifiziert. Insgesamt wurden 450 Opfer von Menschenhandel von den Fachstellen begleitet und beraten (neue Opfer plus Opfer aus den vorherigen Jahren, die weiterhin Betreuungsbedarf haben).

Weitere Einblicke in die neu veröffentlichten Zahlen in der Medienmitteilung der Plateforme Traite erhalten Sie HIER 

Rund um den 18. Oktober finden jährlich die Aktionswochen gegen Menschenhandel statt. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) koordiniert „Die Schweiz gegen Menschenhandel“ in der fünften Ausgabe und es finden schweizweit 22 Veranstaltungen statt. Die FIZ ist mit dem Podium „Ausgebeutet. Illegalisiert. Kriminalisiert!“ am 24.10.23 dabei, sowie Gast in weiteren Veranstaltungen.

Die Veranstaltungsdetails zum FIZ Podium HIER
Der Veranstaltungskalender zu den AKtionswochen HIER

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Schattenbericht für GRETA

Schattenbericht für GRETA

Die Plateforme Traite hat einen NGO-Schattenbericht für GRETA verfasst, der die Erfahrungen der Opferschutzorganisationen wiedergibt und die grössten Probleme im Opferschutz von Betroffenen von Menschenhandel darlegt. GRETA legt in dieser Runde den Fokus auf das Thema «Access to justice», dem Zugang zum Recht und Gerechtigkeit. Die FIZ war bei der Erarbeitung des Berichts massgeblich beteiligt.

Die Group of Experts on the Actions against trafficking, kurz GRETA, evaluiert alle vier Jahre die Umsetzung der Europaratskonvention gegen Menschenhandel in der Schweiz und benennt Handlungsbedarf.

Zurzeit ist die dritte Evaluationsrunde im Gange. Die Schweizer Regierung hat von GRETA einen Fragebogen erhalten und diesen beantwortet. Zudem wird im Sommer 2023 eine Delegation von GRETA die Schweiz besuchen und Gespräche mit Behörden und NGOs führen. Danach schreibt die Delegation einen Bericht mit Empfehlungen an die Schweiz, der vom Europarat voraussichtlich anfangs 2024 verabschiedet wird.

Den Schattenbericht gibt es auf Französisch und Englisch.

 

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Neue Erkenntnisse in der digitalen Erreichbarkeit

Neue Erkenntnisse in der digitalen Erreichbarkeit

Das Erreichen von Betroffenen von Menschenhandel ist anhand ihrer Isolation teilweise sehr schwierig. Über digitale Kanäle kann diese Erreichbarkeit verbessert werden – nur ist dieser online Zugang für uns alle eine neue Form der aufsuchenden Arbeit. In einem Pilotprojekt mit Fokus auf geflüchtete Personen aus der Ukraine konnten wir die digitale Erreichbarkeit der FIZ testen, analysieren und weiterentwickeln.

Den ganzen Projektbericht finden Sie HIER

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Neue Broschüre «Was ist Menschenhandel»

Neue Broschüre «Was ist Menschenhandel»

Opfer von Menschenhandel brauchen Hilfe von anderen Personen, um sich aus der Ausbeutungssituation befreien zu können. Es ist darum sehr wichtig, dass möglichst viele Menschen wissen, was die Merkmale von Menschenhandel sind und wo mutmassliche Opfer Unterstützung erhalten. Die Broschüre erklärt kurz und knapp die rechtliche Definition von Menschenhandel, wie Menschenhandel in der Schweiz stattfindet, was die Anzeichen auf Menschenhandel sind und gibt konkrete Tipps, was Sie tun können, wenn Sie mit einem mutmasslichen Opfer von Menschenhandel in Kontakt kommen.

Die Broschüre gibt es in drei Sprachen: Deutsch, Französisch und Italienisch:

Deutsch

Französisch

Italienisch

 

Gedruckte Exemplare von allen Sprachen können gerne direkt bei der Plateforme Traite bestellt werden: info(at)plateforme-traite.ch



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Plateforme Traite: Kommentar zur Verabschiedung des Nationalen Aktionsplans gegen Menschenhandel

Plateforme Traite: Kommentar zur Verabschiedung des Nationalen Aktionsplans gegen Menschenhandel

Für die Bekämpfung von Menschenhandel braucht es effektive Massnahmen auf kantonaler Ebene, eine starke nationale Koordination und genügend Ressourcen.

Zur gesamten Medienmitteillung der Plateforme Traite geht es hier.

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«Menschenhandel ist nicht einfach ein nigerianisches Problem, sondern auch ein schweizerisches»

«Menschenhandel ist nicht einfach ein nigerianisches Problem, sondern auch ein schweizerisches»

Doro Winkler von der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration gibt Einblick in die Methoden der nigerianischen Mafia.

Zum gesamten Interview mit der NZZ geht es hier.

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"Unsichtbar unverzichtbar"

"Unsichtbar unverzichtbar"

"Tatsache ist, dass das Gesundheitssystem hier nicht funktionieren würde ohne Migrantinnen und ohne migrantische Fachkräfte in der Pflege. Das wissen wir alle. Dennoch ist sehr wenig Wissen vorhanden über die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen, die in diesem Bereich arbeiten", so Philomina Bloch-Chakkalakkal, Praktikantin im Bereich Fachwissen & Advocacy. Sie hat ihre Masterarbeit zur Migration und dem Berufs- und Familienleben von «Nurses» aus Kerala (Südindien) geschrieben. Philo hat Soziologie, Deutsch und Gender Studies an der Universität Basel studiert. Ihre Masterarbeit ist nicht nur eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Migrationsgeschichte von indischen Pflegefachkräften in der Schweiz, sondern auch eine Aufarbeitung der eigenen Migrationserfahrungen und jener ihrer Familie.  Mehr dazu und viele spannende, aber auch aufwühlende Informationen im Interview mit Philo.

Liebe Philo, worüber handelt deine Masterarbeit und wie verortest du deine (Doppel-)Rolle und Perspektive in dieser?

Ich habe für meine Masterarbeit sieben Pflegefachkräfte (sechs Frauen und einen Mann) aus Kerala interviewt, die zwischen den 1960er- und 1990er-Jahren nach Europa migriert sind, um hier den Fachkräftemangel im Pflegesektor zu decken. In der Arbeit geht es mir darum, solche Rekrutierungsprozesse und deren Folgen sichtbar zu machen und die Perspektive der Migrant*innen selbst ins Zentrum zu stellen. Die Nurses (Selbstbezeichnung) berichten über ihre Migrationsgeschichte, über ihre Berufserfahrungen und darüber, wie sie ihr Familienleben über Grenzen hinweg gestalten.

Ich bin selbst Tochter einer der interviewten Nurses. Ich befand mich während der Recherche also in einer Art Doppelrolle. Einerseits als Betroffene von der Geschichte, die ich wissenschaftlich erarbeiten wollte und anderseits war ich auch als Forscherin da. Ich fand diese Rolle methodisch, aber auch emotional sehr anspruchsvoll. Aber genau diese Schnittstelle ist es, die für mich diese Arbeit auch ausmacht.

 

Du schreibst, dass es sich um eine frauengeführte Migrationsgeschichte von «Nurses» aus Kerala handelt. Könntest du das erläutern?

Das Zusammenspiel verschiedener Faktoren, z.B. Klassenverhältnisse in Indien und in Europa, die westliche Ausgerichtetheit des Krankenpflegeberufs oder die geltenden Geschlechterrollen in beiden Gesellschaften hat ab den 1960er-Jahren dazu geführt, dass junge Frauen aus Kerala emigriert sind.

Fast alle Malayalis (Menschen aus Kerala), die heute in der Schweiz leben, haben ihre Migrationsgeschichte den Frauen in ihren Familien, die für die Pflegearbeit ins Ausland immigrierten, zu verdanken. Und fast alle indischen Pflegefachkräfte in der Schweiz kommen aus Kerala.

In Indien ist das Gesundheitswesen der am schnellsten wachsende Wirtschaftssektor. Neben Philippinerinnen und Frauen aus Sri Lanka bilden Frauen aus Kerala eine der grössten Gruppen von Pflegemigrantinnen im internationalen Dienstleistungssektor.

 

Deine Masterarbeit hat den Titel «unsichtbar unverzichtbar». Warum hast du dich für diesen Titel entschieden?

Tatsache ist, dass das Gesundheitssystem hier nicht funktionieren würde ohne Migrantinnen und ohne migrantische Fachkräfte in der Pflege. Das wissen wir alle. Dennoch ist sehr wenig Wissen vorhanden über die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen, die in diesem Bereich arbeiten. Ich hatte viel Mühe für meine Arbeit Quellen zu finden. Deshalb auch der Titel meiner Arbeit: unsichtbar – aber unverzichtbar.

 

Wie fanden bzw. finden Rekrutierungen von «Nurses» aus Südindien statt?

Über die Verbindungen der katholischen Kirche fanden die ersten, missionarisch-humanitär begründeten Rekrutierungen in den 1960ern und -70ern statt. Bereits zehn Jahre später hat sich die Arbeitsmigration im Pflegeberuf zu einer auf Marktrationalität begründeten, staatlich unterstützten Industrie entwickelt. Eine gut etablierte Route hat sich in den letzten 30 Jahren formiert: von Kerala über die indischen Metropolen zum persischen Golf und, im Fall meiner Interviewten, in den globalen Norden. Durch ihre jahrzehntelange Migrationserfahrung haben die Frauen stabile Peer-Netzwerke aufgebaut, die sich über den gesamten Globus erstrecken und unabdingbar sind für Migrationsprozesse junger Menschen aus Kerala heute.

Meine Interviewten sind fast alle zuerst nach Deutschland oder Österreich migriert und sind über Peernetzwerke und in der Hoffnung auf besseren Lohn und mehr Arbeitszufriedenheit in die Schweiz gekommen. Zwei wurden direkt durch Schweizer Spitäler rekrutiert.

 

Die weibliche Arbeitskraft, gerade in der Care-Industrie, wird nicht zuletzt aufgrund von Fachkräftemängeln global «gehandelt». Was hat dies für Konsequenzen für die «Nurses» und ihre Lebenssituation, und für ihre Herkunftsregion?

Es gibt auf mehreren Ebenen eine ganze Kette an Folgen.

Anstatt die Arbeitsbedingungen nachhaltig zu verbessern, verfolgen europäische Staaten seit Jahrzehnten die nicht-nachhaltige Strategie einfach Pflegefachkräfte aus dem Ausland zu importieren. In den Herkunftsländern fehlen die Fachkräfte und nur die Gesundheitsversorgung der Reichsten ist gedeckt.

Daneben werden Migrant*innen mit den ganzen sozialen Folgen internationaler Pflegemigration alleine gelassen. Meine Interviewten, Mütter und Hauptverdienerinnen ihrer Familien, haben die Care-Verantwortung individuell umorganisieren müssen. Ausnahmslos alle beschreiben die Erfahrung von ihren Familien getrennt gewesen zu sein und kein gesellschaftliches Abfangnetz gehabt zu haben als traumatisierend bis heute.

Zudem gab es beispielsweise in Deutschland Mitte der 1970er Jahre einen Anwerbestopp. Die Ausländerbehörde teilte den zum Teil schon über zehn Jahre in Deutschland lebenden und arbeitenden asiatischen Pflegerinnen (aus Kerala und v.a. aus Südkorea) mit, dass ihre Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen nicht mehr verlängert werden würden. Hier sieht man beispielhaft wie mit kapitalistischer Logik Fachkräfte, das heisst Menschen, «eingekauft» und «weggeschmissen» werden. Die Pflegerinnen haben sich aber kollektiv organisiert und so ihre Rechte erstritten.

 

Wie sehen bzw. sahen die Arbeitsbedingungen aus, in welchen sich «Nurses» im Land wiederfanden, in das sie für die Arbeit migrierten?

Die Anwerbungen geschehen unter Slogans wie «Entwicklungshilfe», «Austauschprogramm» oder neu «Triple Win» - es wird die Annahme vorausgesetzt, dass eine Erwerbsarbeit in Europa für junge Frauen aus dem globalen Süden per se attraktiv sein würde. Diese Annahme erweist sich oft als falsch. Die Krankenpflegeausbildung meiner Befragten in Kerala hatte ein höheres Niveau und die Tätigkeiten waren qualifizierter und umfassten weniger Betreuungs- und Hilfsarbeiten als hier.

Meine Interviewten arbeiten alle seit mehreren Jahrzehnten in dem Beruf. Als rekrutierte Migrantinnen mit finanzieller Verantwortung fühlten sich alle verpflichtet weiterzumachen, auch wenn die Arbeit sie teilweise «kaputtmachte». Trotz allem sind ausnahmslos alle Interviewten (zurecht!) stolz auf ihre Tätigkeit, ihre Erfahrungen und ihre Skills. Sie können aber auch genau den Finger auf die Dinge legen, die in der Pflegearbeit strukturell verändert werden müssen.

 

Du sprichst in deiner Arbeit immer wieder von einer Zerrissenheit der «Nurses», auch aufgrund ihrer Care-Verantwortung gegenüber ihren Kindern und Familie und ihrer Identität im «fremden» Europa. Kannst du das etwas ausführen?

Die Frauen berichten von unterschiedlichen Herausforderungen, die sie in unterschiedlichen Lebensabschnitten meistern mussten. Als junge Frauen frisch in Europa hatten sie neben der komplett neuen und fremden Umgebung viel mit Heimweh und Einsamkeit wie auch mit der Last der ihnen auferlegten Verantwortung zu kämpfen.

Als Fachkräfte und Familienmenschen haben sie in ihrem Leben mit mehrfachen Betreuungsverpflichtungen gegenüber ihren Patient*innen einerseits und ihren Familien andererseits zu kämpfen. Sie müssen oft alleine zwischen mehreren Verantwortungen manövrieren, zum Beispiel als kompetente Facharbeiterinnen, pflegende ‘Schwestern’, kümmernde Mütter, zuverlässige Töchter und liebende Ehefrauen in transnationalen Beziehungskonstellationen. Heute stellen sich die meisten die Frage nach der Pensionierung. Wo möchte ich leben? Wo gehöre ich hin? Was ist meine Heimat?

Bild: Rückseite des Ausbildungszertifikats einer Interviewten: “Certificate of General Nursing and Midwifery” mit Migrationsstempeln. Ausgestellt in Thiruvananthapuram am 1. November 1984 (zVg)

 



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Heilige Zeit? Höchste Zeit!

Heilige Zeit? Höchste Zeit!

Plädoyer der FIZ für einen Verzicht auf die Rückführung von Personen nach Griechenland, insbesondere Opfer von Menschenhandel mit Schutzstatus.

Es ist bekannt, dass die Schweiz sich gerne länger Zeit lässt als umliegende EU-Staaten, um ihren politischen Kurs anzupassen. Das zeigt sich nicht nur in der Pandemie-Politik. Als es darum ging, Italien nicht länger als sicheren Drittstaat für Dublin-Rückführungen anzuerkennen, dauerte es ein Jahr, bis sie ihre Praxis den Folgen der extrem verschärften Migrationspolitik in Italien anpasste. 2019 war es, als trotz vorliegender, deutlicher Medien- und Fachberichte[1] und eindringlichen Appellen aus der Politik und Gesellschaft daran festgehalten wurde, Menschen, darunter Opfer von Menschenhandel, nach Italien auszuweisen - weil Italien alle notwendigen internationalen Menschenrechtskonventionen unterzeichnet habe und somit ein sicherer Drittstaat sei. So wurde auf dem Rücken höchst vulnerabler Personen Machtspiele und Prinzipien-Reiterei betrieben, die für die Betroffenen extrem belastend waren. 2019 war es an der Tagesordnung, dass das SEM einen Entscheid erliess, dass ein Opfer von Menschenhandel nach Italien zurückgeschickt werde. Obschon sie dort Opfer von Menschenhandel geworden war, sich die Täterschaft nach wie vor dort befand und bekannt war, dass es in Italien keine Unterstützungsstrukturen gab. Damit wurde in der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht argumentiert. Dieses wiederum entschied im Einzelfall, dass das SEM nochmals über die Bücher müsse. Das Gericht stellte aber nie grundsätzlich in Frage, Personen nach Italien zurückzuschicken, bis zum 17. Dezember 2019, als endlich das lang ersehnte Referenz-Urteil gefällt wurde.[2]

Doch dieses wurde in den letzten Monaten sogar für Betroffene von Menschenhandel immer mehr aufgeweicht, mit dem Verweis darauf, dass individuelle Garantien eingeholt worden seien, dass die Lage in Italien sich entspannt habe und die Betroffenen sich bei dortigen NGOs melden könnten. Bei dortigen NGOs, die auf dem Papier zwar wieder – nach Aufweichung des restriktiven Salvini-Dekretes - damit beauftragt sind, für die Vulnerabelsten unter den Asylsuchenden in Italien zu sorgen. Nach Angaben unserer italienischen Partnerorganisationen haben sie dafür jedoch nicht mehr Ressourcen erhalten und auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe weist darauf hin, dass die Lage in Italien weiterhin sehr prekär ist.[3] Das Referenzurteil von 2019 wurde vom Bundesgericht nun im Oktober 2021[4] wieder aufgehoben und mit einem neuen ersetzt: Seither müssen selbst höchst vulnerable Personen und Familien wieder nach Italien zurück.

Und Griechenland? Zurzeit sieht es stark danach aus, dass die Schweiz sich in Bezug auf Personen, die in Griechenland einen Schutzstatus, also eine Art Flüchtlingsanerkennung erhalten haben, ähnlich stur verhält. In der Griechenland-Konstellation ist es aber für unsere Klient*innen und für uns noch absurder, noch unfassbarer: Die meisten von ihnen wurden in Griechenland Opfer von Menschenhandel und/oder sexualisierter Gewalt, und zwar erst nach dem Erhalt des dortigen Schutzstatus. Ist die Situation in den griechischen Flüchtlingslagern schrecklich und unmenschlich, so ist es nach Erhalt des Schutzstatus noch schlimmer. Denn dann haben die Personen kein Anrecht mehr auf ein Lagerbett und das dürftige Camp-Essen. Sie haben keinen Ort, wo sie hingehen können und Unterstützung erhalten. Sie landen auf sich alleine gestellt auf der Strasse. Und werden so noch vulnerabler als sie sowieso bereits waren. Wenn sie versuchen, sich und ihren Kindern das Essen «zu verdienen», treffen sie oft auf Ausbeuter. Das führt dazu, dass sie faktisch keine andere Möglichkeit haben, als sich in Abhängigkeiten und im schlimmsten Fall in eine andauernde Ausbeutungssituation zu begeben. So ist es unseren Klient*innen ergangen. Unsere Klient*innen, die obwohl sie gegenüber dem SEM und der FIZ-Beraterin ihre Ausbeutungsgeschichte offenlegten, nach kürzester Zeit hier in der Schweiz einen Nichteintretensentscheid mit Rückweisung nach Griechenland vom SEM erhalten haben mit der Begründung: Ihnen wurde ja in Griechenland der Schutzstatus gewährt. Griechenland sei Signaturstaat der einschlägigen Europäischen Konventionen.

Erneut scheint es, als würde es das Bundesverwaltungsgericht tunlichst vermeiden, ein Urteil zu fällen, das Betroffene von Menschenhandel schützen könnte. Und es argumentiert bei einer Betroffenen von sexualisierter Gewalt so:

«Der Umstand, dass die Beschwerdeführerin in der Vergangenheit in Griechenland Opfer eines sexuellen Übergriffs gewesen sei, lässt sie zwar als vulnerabel erscheinen, vermag unter Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse aber nicht zur Unzulässigkeit der Überstellung nach Griechenland zu führen. Bedauerlicherweise gelingt es keinem Staat, seine Einwohner und Einwohnerinnen jederzeit und überall vor kriminellen Machenschaften zu schützen. Griechenland ist sodann ein Rechtsstaat, der über einen funktionierenden Polizei- und Justizapparat verfügt.»[5]

Derweil beurteilt Deutschland die Lage völlig anders: Gerade am 16. November 2021 bekräftigte ein Urteil des Bremer Oberverwaltungsgerichts, dass Rückführungen für Personen mit Schutzstatus in Griechenland nicht einmal für erwachsene, gesunde, junge Männer zumutbar seien, denn es sei davon auszugehen, «dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Griechenland keine menschenwürdige Unterkunft finden, sondern für einen längeren Zeitraum obdachlos sein wird».[6] Weiter wird im Urteil argumentiert, dass ihm in Griechenland weder der Zugang zum Arbeitsmarkt noch zur Sozialhilfe faktisch offen steht.[7]

Währenddessen erlässt das SEM weiterhin Nichteintretensentscheide für Griechenland. Es tritt also nicht auf das Asylgesuch von Frauen mit kleinen Kindern ein, die in Griechenland nach Erhalt des Schutzstatus Opfer von Menschenhandel oder sexualisierter Gewalt geworden sind, denen eine erneute Ausbeutungssituation droht. Und in einigen Fällen gibt das Bundesverwaltungsgericht den Entscheid nicht einmal mehr an das SEM zurück, sondern bekräftigt dessen Entscheid. In anderen Fällen sind wir seit Monaten am Warten, wie das Bundesveraltungsgericht entscheiden wird.

Wir schreiben das Jahr 2021, in dem trotz vorliegender, deutlicher Medien- und Fachberichte[8] und eindringlichen Appellen aus der Politik und Gesellschaft daran festgehalten wird, Menschen, darunter Opfer von Menschenhandel, nach Griechenland auszuweisen - weil Griechenland alle notwendigen internationalen Menschenrechtskonventionen unterzeichnet habe und somit ein sicherer Drittstaat sei. So wird auf dem Rücken höchst vulnerabler Personen Machtspiele und Prinzipien-Reiterei betrieben, die für die Betroffenen extrem belastend sind.

Auch jetzt sind wir, wie damals 2019, am Warten. Auf das Referenzurteil, das endlich anerkennt, dass es in Griechenland keinen Schutz gibt. Schon gar nicht für Frauen und ihre Kinder mit «Schutzstatus». Schon gar nicht für Betroffene von Menschenhandel, die erneut an den Ursprungsort ihrer Ausbeutung zurückgeschickt werden sollen, an dem sie erwiesenermassen kein Obdach, keinen Zugang zum Arbeitsmarkt oder zur Sozialhilfe haben werden.[9] Und an dem, im schlimmsten Fall, die Rückführung in die Türkei und von dort ins Herkunftsland auf sie wartet.[10]

Das Warten ist lang. Für uns in der täglichen Arbeit. Vor allem aber für die Betroffenen, die seit Monaten in ständiger Angst leben, heute den Bescheid zu bekommen, dass die Beschwerde abgelehnt worden ist und sie nach Griechenland zurückmüssen. Obwohl es kein Geheimnis ist, was dort passiert und andere Staaten ihre Rechtsprechung längst angepasst haben. Es ist höchste Zeit!


[1] Siehe z.B. die diversen und stets aktualisierten Fach-Berichte der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zu Italien.
[2] Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-962/2019.
[3] Vgl. Medienmitteilung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 21. Oktober 2021.
[4] Urteil des Bundesverwaltungsgerichts F-6330/2020.
[5] Entscheid des Bundesveraltungsgerichts D-3873/2021 vom 3. September 2021.
[6] Neuestes Gerichtsurteil vom Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen16. November 2021: AZ 1 LB 371/21.
[7] Ibid, S. 15f.
[8] Siehe z.B. die diversen und stets aktualisierten Lage- und Rechtsberichten zu Griechenland von der Schweizerischen Flüchtingshilfe.
[9] Vgl. Gerichtsurteil von Bremen AZ 1LB 371/21, S. 15f.
[10] Seit 1. Juli 2021 anerkennt Griechenland die Türkei als sicheren Drittstaat. Die Türkei weist u.U. an Herkunftsländer zurück. Vgl. Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und von ProAsyl.

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Recherche "Glitzernde Nägel. Prekäre Umstände"

Recherche "Glitzernde Nägel. Prekäre Umstände"

Gegenwärtig werden wenige Opfer von Menschenhandel zwecks Arbeitsausbeutung in der Schweiz identifiziert, obwohl es im nahen Ausland gut dokumentierte Fälle gibt. Die FIZ hat eine Recherche in Auftrag gegeben, um die Situation in der Schweiz zu analysieren. Als Beispielbranche wurden Nagelstudios gewählt.

In den letzten Jahren berichteten europäische Fachorganisationen von Netzwerken, die Menschen (insbesondere aus Vietnam) nach Europa bringen zum Zweck der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft. Als Ausbeutungsorte werden oft Nagelstudios genannt.

Die Ergebnisse der Recherche und die Stellungsnahme der FIZ können hier eingesehen werden.

Die gedruckte Version der Recherche kann ebenfalls bei uns (contact@fiz-info.ch) bestellt werden.

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